Chronik für das Jahr 1945

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1. April 1945

Morgens gegen 10 Uhr erschienen feindliche Tiefflieger über dem Bahnhofs- und Flugplatzgelände. Ein Flugzeug wurde abgeschossen.

Kassel wird von den anrückenden amerikanischen Armeen bedroht, feindliche Panzer sind bereits in den Weserraum durchgedrungen. Die Lage fängt an, für Göttingen höchst kritisch zu werden.

Besonnene Männer aus der Bürgerschaft wie der Universität setzten sich für unbedingte Erklärung Göttingens als Lazarett- und freie Stadt, d.h. für kampflose Übergabe zur Rettung der Bevölkerung samt 2000 Verwundeten der Lazarette und der wertvollen Institute ein. Eine Abordnung, in der Hauptsache Universitäts-Professoren, fuhr heute zum Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Lauterbacher nach Rothenkirchen bei Einbeck, wohin die Gauleitung aus Hannover sich evakuiert hatte. Zweck der Besprechung war, von Lauterbacher die Zusicherung der Erklärung Göttingens zur freien Stadt zu erhalten. Der Gauleiter hat diese Entscheidung nicht eindeutig getroffen.

In diesen Tagen hat es schwere Konflikte unter den führenden Persönlichkeiten Göttingens gegeben. Der Kreisleiter vertrat den Standpunkt schärfsten Widerstandes um jeden Preis, er behauptete, durch die Verteidigung Göttingens den Vormarsch der feindlichen Armeen zum Stillstand bringen zu können und bereitete die Sprengung aller wichtigen Gebäude der Stadt und der Universität vor. Dem gegenüber erklärten, je länger je mehr, die militärischen Stellen die Unmöglichkeit, ja Sinnlosigkeit einer Verteidigung. Diesen Erwägungen schloß sich auch der Oberbürgermeister Gnade an, der - obwohl alter Nationalsozialist - seit längerem schon den Widersinn dieser völlig aussichtslosen Weiterführung des Krieges erkannt hatte und wegen dieser, auch den Parteiinstanzen bekannten Einstellung seit einiger Zeit vom NS-Sicherheitsdienst im Geheimen überwacht wurde.

Zwischen dem Kreisleiter und dem Oberbürgermeister bestand seit Jahren eine versteckte und doch allgemein bekannte, heftige Gegnerschaft, letztlich begründet in dem Fanatismus des Kreisleiters und der auf Verständigung zielenden ruhigen Art des Oberbürgermeisters. Die Stimmung der Bevölkerung war - soweit von deren Plänen etwas bekannt geworden war - gegen den Kreisleiter, und eine Anzahl namhafter Persönlichkeiten aus Universität und Stadt war seit Tagen aufopfernd bemüht, das Schlimmste von Göttingen fernzuhalten.

Als Nachfolger des im Januar dieses Jahres verstorbenen Forstmeisters Früchtenicht übernahm Forstmeister Theo Oswald die Leitung des städtischen Forstwesens.

5. April 1945

Der Kreisleiter löst den Volksturm auf, befahl den Volksturm-Männern, sich dem Werwolf, einer illegalen nationalsozialistischen Kampforganisation, anzuschließen, kurze Zeit danach wurde der Befehl widerrufen.

6. April 1945

Auf Anregung des bisherigen Kampfkommandanten, Oberst von der Decken, wurde Oberst Zugehör (Kommandeur des Heereswaffenamtes II) mit den Aufgaben des Kampfkommandanten betreut. Oberst von der Decken blieb Standortältester. Die Truppenteile erhielten Befehl, sämtliche Geheimsachen zu vernichten, man war in den militärischen Kreisen sich darüber klar, daß Göttingen nicht verteidigt werden könne, und daß daher in den nächsten Tagen mit dem Einmarsch der Amerikaner zu rechnen sein müsse.

Auf Grund der von den verantwortlichen militärischen Stellen Göttingens immer wieder erhobenen Vorstellung der Sinnlosigkeit, die Stadt zu verteidigen, hob das Oberkommando Heer den Verteidigungsbefehl für Göttingen auf. Dieser Befehl wurde sofort an die Feldtruppen weitergegeben. Auf Grund dessen sind die deutschen Truppen auf ihrem Rückzug auch nicht durch Göttingen gezogen. Sämtliche noch in der Stadt vorhandenen kampffähigen Truppenteile wurden jetzt in den Raum von Dransfeld verlegt, die unbewaffneten Genesenen-Kompanien in Richtung Harz in Marsch gesetzt, die nicht Marschfähigen in die Lazarette geschickt. Der Heimat-Pferdepark kam nach Reinhausen, die in vielen Betrieben als Arbeiter eingesetzten und in mehreren Lagen im Stadtgebiet untergebracht gewesenen Kriegsgefangenen waren schon mehrere Tage zuvor in den Raum Hildesheim abtransportiert worden.

Sämtliche Kraftfahrzeuge in Stadt und Land wurden beschlagnahmt, um die kämpfende Front mit Ersatz, Munition, Treibstoff, Bekleidung und Verpflegung zu versorgen. Eine schwere Sorge war der Befehl, die gesamten Bestände der großen Luftwaffen-Munitionsfabrik Lenglern beim Anrücken des Feindes zu sprengen. Die Explosion der ungeheuren Menge an schwerer und schwerster Munition hätte die Landschaft im Umkreis von 30 km in eine Wüste verwandelt. Damit wäre dann auch das Schicksal Göttingens besiegelt gewesen. Es ist daher ein Verdienst des Standortältesten, Oberst von der Decken, daß, entgegen den bestehenden Befehlen, nicht die gesamte Munitionsfabrik gesprengt worden ist, sondern nur die geheimzuhaltenden Teile der Bestände.

Die Ereignisse an der nun ganz nahen Front und die Gerüchte in der Stadt überstürzen sich. Die allgemeine Stimmung war für Übergabe ohne Kampf, nur einige, fanatisierte Parteileute (SS, Hitler-Jugend, Werwolf) wollte diesen. Die Bevölkerung, besonders Frauen und Kinder, flüchtete teilweise in den Hainberg.

7. April 1945

Abends erlitt Göttingen wieder einen heftigen Luftangriff. Er sollte der letzte dieses Krieges für unsere Stadt sein. Um 18 Uhr erschienen die ersten amerikanischen Bomber über Göttingen, um bald darauf zum Generalangriff auf den Bahnhof anzusetzen. Sie kamen von Süden und flogen im Bogen nach Osten, im ganzen konnten fünf Angriffe beobachtet werden.

Die Bomben lagen vom Geologisch-Zoologischen Institut bis zum Ende des Güterbahnhofes und richteten große Zerstörung an. Der Mitteltrakt des Bahnhofsgebäudes erhielt Treffer, das Obergeschoß brannte aus, der Südflügel wurde vernichtet. Das klassizistische Anatomiegebäude mit der schönen dorischen Säulen-Vorhalle wurde bis auf seinen südlichen Flügel völlig dem Boden gleich gemacht, das Zoologische Institut brannte im Obergeschoß aus. Mit der alten Anatomie ging eines der wenigen künstlerisch wertvollen Universitäts-Gebäude Göttingens in Trümmer.

Starke Schäden entstanden weiter nach Norden beim Lokomotiven-Schuppen, der schwer getroffen wurde. Dort, am Eingang zum Städtischen Betriebsamt am Maschmühlenweg, waren riesige Bombentrichter zu sehen, auch die hinter der Anatomie und vor dem Bahnhofsgebäude hatten beträchtlichen Umfang. Im Betriebsamt wurden 8 Pferde getötet. Glücklicherweise wurde der Bunker, in den sich 150 Personen geflüchtet hatten, nicht getroffen. An der Weender Landstraße beschädigten die Bomber die Briefordner-Fabrik Mehle & Co. sehr schwer, ebenso einige Privathäuser auf der östlichen Seite.

8. April 1945

In der Nacht zum 8. April berieten die verantwortlichen Kreise fieberhaft über die Vorbereitung der Übergabe. Der Kreisleiter floh in den frühen Morgenstunden mit seinem Stab in Richtung Waake. Seit 8 Uhr gab es fast ununterbrochen Fliegeralarm. Um 11.30 Uhr kam dann das seit Stunden schon erwartete Signal: die Luftschutzsirenen heulten 5 Minuten lang: Feindalarm! Die Amerikaner rückten an. Ihre Artillerie war auf den Höhen westlich von Göttingen aufgefahren. Um 12.50 Uhr setzte die Beschießung der Stadt ein, etwa 10 Minuten lang in Abständen, in ganzen 6 Lagen. Getroffen wurde das Ostviertel.

Die erste Lage war auf den Luftschutz-Befehlsstand in der ehemaligen Levinschen Villa, Merkelstraße 4 gerichtet. Weitere Granaten gingen in der Hanssenstraße, Baurat-Gerber-Straße, auf dem Rohnsweg, an der Ecke Hainholzweg-Friedländerweg, in der Lohberg-Straße und an der Ecke David Hilbert-Münchhausen-Straße nieder. Die St. Pauluskirche erhielt zwei Treffer, einen neben die Uhr in den Turm, einen unten in das südliche Seitenschiff. Eine weitere Serie Geschosse lag zwischen Landratsamt in der Nikolaistraße und Geismar-Tor. Es gab mehrere Verletzte und auch einen Toten.

Der Kampfkommandant, der seinen Befehlsstand auf den Hainberg (Kaiser-Wilhelm-Park) hatte, verließ jetzt befehlsmäßig Göttingen, das nun ohne militärische Besatzung und damit eine offene Stadt war. Der Übergabe stand nun nichts mehr im Wege, sie wurde sogar dringendes Gebot, sollten nicht weitere Beschießungen Stadt und Bevölkerung ernstlich gefährden. Oberbürgermeister Gnade, Amtsgerichtsrat Schmidt, Stadtrechtsrat Schwetge und als Dolmetscher Professor Baumgarten fuhren vom Luftschutz-Befehlsstand durch die völlig menschenleeren Straßen in die Stadt hinunter zum Marktplatz, den bereits amerikanische Truppen besetzt hielten.

Im Amtszzimmer des Oberbürgermeisters übergab dieser dann die Stadt durch Professor Baumgarten als Dolmetscher dem amerikanischen Oberst. Es war gegen 13.30 Uhr. Ausschreitungen kamen beiderseits nicht vor, alles blieb ruhig.

Unter dem Druck der Zeitereignisse wurde die Georg-August-Universität geschlossen.

Postamtmann Ammermann übernahm die Leitung des seit 1939 bestehenden Fernsprechamtes Göttingen.

9. April 1945

Noch einmal schien in der Nacht vom 9. zum 10. April der Krieg die Stadt zu bedrohen. Eine SS-Panzer-Formation versuchte von Norden, Göttingen zurückzuerobern, der Gefechtslärm schwoll von Bovenden her ständig an. Die Nervosität der Bevölkerung wie der amerikanischen Truppen war beträchtlich, doch verzog sich mit der Zeit die Gefahr, Göttingen blieb von weiteren Kriegshandlungen verschont. Auch die in der Stadt hier und da noch vorhandenen Mitglieder des Werwolfs, zumeist Hitler-Jugend, unternahmen nichts und fügten sich den Erfordernissen der Lage. Der Krieg war, wenigstens äußerlich, für Göttingen beendet.

Gestern nachmittag und besonders heute plünderten die ausländischen Arbeiter und Arbeiterinnen, aber auch Hunderte von Deutschen, Männer, Frauen und Kinder, das Heeres-Verpflegungsamt am Kleinen Hagen, wie das Proviantlager in der Zieten- und Weender Kaserne. Mit Handwagen fuhren die Göttinger hinaus und luden auf, was sie fanden: Lebensmittel, Kleiderstoffe, Medikamente. In den nächsten Tagen sah man viele Leute aus den zerstörten Häusern Holz und aus den Lokomotivtendern Briketts holen. Auch die Waldungen wurden stark geplündert.

Es waren damals rund 25 Ausländer-Lager in Göttingen, meist in Außenbezirken, aber auch in der Stadt (z.B. in der Lutherschule - Ostarbeiter, im Albani Gemeindehaus - Franzosen, im Gasthaus Engel in der Roten Straße usw.). In diesen Lagern waren die während des Krieges aus ihren Heimatländern zwangsweise nach Deutschland transportierten fremden Arbeiter untergebracht.

11. April 1945

Amtsgerichtsrat Erich Schmidt, seit 1944 der Stadtverwaltung zur Arbeitsleistung überwiesen, wurde von der amerikanischen Besatzungsmacht an Stelle des als Nationalsozialist abgesetzten Oberbürgermeisters Gnade zum Oberbürgermeister der Stadt Göttingen ernannt.

Auf Anordnung der amerikanischen Militär-Regierung darf die deutsche Bevölkerung nur in der Zeit von 6 bis 19 Uhr die Häuser verlassen, auch in Gärten beim Haus und auf Balkonen ist der Aufenthalt nur in der angegebenen Zeit gestattet. Niemand darf sich weiter als 6 km von seinem Wohnhaus entfernen. Zuwiderhandelnde wurden vom amerikanischen Militärgericht mit 1 bis 2 Monaten Gefängnis bestraft.

12. April 1945

Das nationalsozialistische Regime hatte die freie Rektor-Wahl an den Hochschulen aufgehoben und durch Ernennung eines Rektors von Seiten des Reichserziehungsministers ersetzt. Jetzt ist die jahrhundertealte Tradition wieder hergestellt worden. Der Senat der Georg-August-Universität beauftragte dem Professor für Staats-, Kirchen- und Verwaltungsrecht, Dr. jur. D. Rudolf Smend, mit der Übernahme der Rektoratsgeschäfte.

13. April 1945

Die amerikanische Militär-Regierung gab bekannt, daß die englische Sprache als Amtssprache gilt und daß bei Veröffentlichungen und Anordnungen nicht der deutsche, sondern der englische Wortlaut maßgebend ist.

15. April 1945

Der kommissarische Landrat des Landkreises Göttingen, Friedrich Bourwig, ist auf Anordnung der Militär-Regierung seines Amtes enthoben, weil der aktiv in der NSDAP tätig gewesen ist. Oberbürgermeister Erich Schmidt wurde zum Landrat ernannt, der führt beide Ämter getrennt voneinander.

17. April 1945

Die ersten der von den Nationalsozialisten vorgenommenen Umbenennungen von Straßen wurde rückgängig gemacht. Die "Straße der SA" heißt wieder "Weender Straße", die "Franz-Seldte-Straße" wieder "Theaterstraße", der "Adolf-Hitler-Platz" wieder "Theaterplatz". Leider hat man bei der Umbenennung der "Straße der SA" den früheren "Kornmarkt" zwischen Groner- und Rote Straße, den man 1936 in die "Straße der SA" miteinbezogen hatte, nicht wieder berücksichtigt. Ein mittelalterlicher Straßenname ist dadurch verloren gegangen.

20. April 1945

Seit dem 6. April ist Göttingen ohne Zeitungen. Heute erschien erstmalig das "Göttinger Mitteilungsblatt", das den amtlichen Verordnungen der Besatzungsmacht wie der deutschen Behörden dient. Es enthielt in der ersten Nummer u.a. die Proklamation des Obersten Befehlshabers der Alliierten Streitkräfte, General Eisenhower, an das Deutsche Volk, die Gesetze über Auflösung der NSDAP, die Aufhebung nationalsozialistischer Gesetze, die Schließung der deutschen Gerichte, des Zeitungsgewerbes, des Rundfunks, des Vergnügungsgewerbes, Verbote der Benutzung der Eisenbahn und von Privatkraftfahrzeugen, der Ansammlung von mehr als 5 Personen in der Öffentlichkeit oder in Privatwohnungen zu Diskussionszwecken, des Tragens und Gebrauchs von photographischen Apparaten und Feldstechern, des Zeigens deutscher Fahnen, des Singens deutscher patriotischer Lieder, der Einstellung des gesamten Postverkehrs, der Ablieferung von Waffen aller Art und Munition, der Anmeldung aller Rundfunkgeräte und elektromedizinischen Apparate.

21. April 1945

Von etwa 8.30 Uhr an begannen die Amerikaner das Geismar-Tor niederzulegen, da die Durchfahrt für ihre Fahrzeuge zu schmal war. Zuerst zogen sie die Löwen auf den Pfeilern mit Seilen herunter, dann wurden Schaufelpanzer gegen die Pfeiler selbst angesetzt. In einer halben Stunde war die ganze Arbeit getan. Damit ist das letzte der Göttinger Tore aus dem 18. Jahrhundert verschwunden, die Stadt hat eines ihrer Wahrzeichen verloren.

23. April 1945

Die seit dem Einmarsch der amerikanischen Truppen geschlossenen Banken, einschließlich der Postsparkasse, sind von heute ab wieder geöffnet.

27. April 1945

Ab sofort setzte die Militär-Regierung das Ausgehverbot auf die Stunden von 20.30 bis 6.30 Uhr fest.

Wegen Kohlenmangels muß das Gaswerk geschlossen werden.

Der Oberbürgermeister ordnete die Wiedereröffnung aller Handwerksbetriebe sowie der Drogerien an.

30. April 1945

Allen Geschäften im Stadtkreis Göttingen ist es verboten, den Besatzungstruppen Waren zu verkaufen, mit Ausnahme der Geschäfte, die von der Militär-Regierung das Schild "On Limits" ("Erlaubt") erhalten haben.

An Stelle des von seinen Amtspflichten entbundenen Dr. med. Hoefer wurde Augenarzt Dr. med. Stade zum Leiter der Göttinger Ärzteschaft bestimmt.


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