Karl Wagner

wurde am 23.1.1902 in Göttingen geboren. Nach der Schule absolvierte er von 1916-1920 eine Lehre bei der Göttinger Firma Neidel & Struck, bei der er bis 1927 beschäftigt blieb. 1918 trat er dem Kupferschmiedeverband bei und blieb bis Mai 1933 gewerkschaftlich organisiert. 1922 trat er aus der Kirche aus.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Hamburg arbeitete er als Maschinist im Städtischen Wasserwerk. Politisch engagierte sich Wagner zunächst in der KPD. Politische Gründe bewogen ihn nach zwei Jahren zum Austritt und er schloss sich dem ISK an. Sein Kirchenaustritt und das Engagement im ISK schufen auch Verbindungen zum Freidenkerverband und dem Arbeiter-Abstinenten-Bund.1

Ende des Jahres 1926 arbeitete er bereits in der ISK-Jugend mit. Die Gruppe beschäftigte sich zum Jahreswechsel mit dem Thema Vegetarismus. Er fand sich gut in die Arbeit hinein, denn bereits im Januar 1927 übernahm Karl Wagner die Führung der Jüngerengruppe der ISK-Jugend von Lisbeth Evers.2 Die Arbeit mit den Jugendlichen gestaltete sich zunächst schwierig. Willi Eichler konstatierte im Februar 1927 eine gewisse Ermüdung der jüngeren Teilnehmer, und führte das auf zu wenig Rücksicht auf das Spielbedürfnis zurück. (ISK-Jugend)3

Karl Wagner wurde natürlich politisch geschult. Er und Willi Hente, der ihn bei der Arbeit in der Jugendgruppe unterstützte, nahmen zu diesem Zweck auch an den regelmäßigen Besprechungsterminen teil. Die Besprechungen der Jugendgruppe selbst fanden im Jugendheim statt.4

Verbindungen wurden auch mit den anderen Ortsvereinen gepflegt. Die Gruppe beteiligte sich zu Pfingsten 1927 mit 14 Jugendlichen an einem Treffen mit den Ortsvereinen Melsungen und Kassel.5 Gearbeitet wurde in Fünfer-Arbeitsgruppen. Im August 1927 bereitete eine davon unter der Anleitung von Karl und Richard Wagner sowie Willi Hente eine Ausstellung zum Ersten Weltkrieg vor. Unterstützt wurden sie dabei von Heinrich Düker, der den Jugendlichen von seiner Kriegsteilnahme berichtete.6

Die Arbeit im Städtischen Wasserwerk beanspruchte Karl Wagners Zeit und war schwer mit einer regelmäßigen Mitarbeit in der Jugendgruppe zu vereinbaren.7 Ständige Überstunden gingen zu Lasten der ISK-Jugend. Wie ernst dies genommen wurde, zeigt sich daran, dass Hanna Fortmüller in einem Bericht im Frühjahr 1930 vorschlug, dass er seine Arbeit im Wasserwerk aufgeben solle.8

Zudem hatte der 28-jährige Wagner anscheinend zu der Zeit noch eine andere „Ablenkung“. Willi Eichler berichtete am 16. Mai 1930: (…) Einige M (itglieder) haben die Probe, die in den letzten Wochen in bezug auf ihre Härte gemacht wurde, nicht bestanden. Das sind: ein Schlosser, ein kaufmännischer Angestellter und ein Lehrer: Karl Wagner, Willi Hente und Hermann Küchemann. Karl Wagner hat den ISK verlassen einem Mädchen zuliebe; Willi Hente seiner Mutter zuliebe, und Hermann Küchemann deswegen, weil er nicht in den Verdacht kommen wollte beim gemeinsamen Aufmarsch mit der KPD, ein verkappter Kommunist zu sein.9 Die Drei wurden am 1. Mai 1930 ausgeschlossen. Dies bedeutete eine Zurückstufung des Status auf den eines Anwärters.10

Karl Wagner war auch in der Theatergruppe der Freidenker aktiv, der Spielschar.11 Diese vereinte Jugendliche aus dem ISK, den Freidenkern (Freidenker) und der KPD (KJVD). Die Theatergruppe probte im Jugendheim, wo sie ihre Stücke auch zur Aufführung brachte, z.B. das Friedrich-Wolf-Stück Cyankali (1929), das die Problematik des § 218 thematisierte. 1932 führten sie Die Matrosen von Cattaro (1930) auf, ein Antikriegsstück, ebenfalls von Wolf. Noch im Januar 1933 führte die Spielschar das Antikriegsstück auch in Hann. Münden auf. Karl Wagner erinnerte sich daran, dass sie als Soldaten ausstaffiert waren. Deshalb mußten wir Gewehre haben bei der Aufführung. Die haben wir uns vom Arbeiterschützenbund geborgt. Und da waren die Nazis schon am Ruder, und die (der Arbeiterschützenbund) wollten die Gewehre gar nicht wiederhaben... Die wußten gar nicht, wohin damit...12 (ISK-Jugend)

Karl Wagner traf anscheinend die Entscheidung, sich noch etwas handfester zu engagieren. Linkes Engagement hieß Anfang der 1930er Jahre Engagement gegen die Nationalsozialisten. Wagners Meinung nach schätzte das Reichsbanner die Nationalsozialisten nicht richtig ein. Also schloss er sich der Antifaschistischen Arbeiterwehr an, die im Mai 1930 gegründet wurde. Die ANTIFA rekrutierte ihre Mitglieder zu Anfang u.a. aus dem Reichsbanner und dem Freidenkerverband, zudem kamen viele Sympathisanten aus dem Umkreis des ISK. August Stapel, Hauptkassierer der Freidenker, erinnerte sich: Wir provozierten auch Zusammenstöße mit der SA. Wir gingen mit fünf Mann als Patrouille auf der Weender Straße und hielten dabei die Arme verschränkt. Doch es rührte sich nichts, die Brüder waren ja feige. Am 1. Mai ging ich mit Fritz Schmalz, (Heinrich) Westernhagen (beide ISK)‚ Kurt Mink (KPD), Albert Stege über den Markt, wo eine Schlägerei stattfand. Die SA von außerhalb war gekommen, und wir wurden in die Barfüßer Straße abgedrängt. Mir wollten zu Herrn Schmalz in die Jüdenstraße, um Knüppel zu holen. In der Theaterstraße trafen wir eine Gruppe von zwanzig SA-Männern. Fritz fragte: „Wollen wir die etwa laufen lassen?“ — „Ran!“ Obwohl wir nur sechs waren, sind die anderen gelaufen wie die Hasen.
Die Arbeiterwehr war dann immer sehr gefürchtet.

Zu uns gehörten auch Ludwig Fraatz und Karl Wagner. Wir haben viel geübt und uns insgeheim Waffen besorgt, denn die SA war immer sehr aktiv. Der Reichsbanner war uns als Kampfgefährte zu lasch, später wurde daraus die „Eiserne Front“.13 (KPD Antifa)

Wagner war auch dabei, als die Vorsichtsmaßnahmen der Arbeiterschaft gegen Übergriffe der Nationalsozialisten anlässlich der Rede Adolf Hitlers im Kaiser-Wilhelm-Park am 21.7.1932 organisiert wurden: Da haben wir uns bewaffnet und haben im Volksheim, im Konsum (gesessen). Haben da gesessen und gewartet. Wenn die Brüder von Hitler aufgeputscht und gekommen wären, stellt euch vor, (...)14

Nach der Machtübertragung orientierte sich Karl Wagner weiter an seinen Freunden des ISK. Auf seiner Arbeitsstelle im Wasserwerk konnte er kaum Gleichgesinnte finden. Er erinnerte sich: (…) die waren alle so unpolitisch. Ich war der einzige im Werk, in der Abteilung von den Stadtwerken, der in der Gewerkschaft war.15

Im April heiratete Karl Wagner Dora Friedrich (siehe Foto „ISK-Jugend im Stadtpark), wegen der Beziehung zu ihr wurde er 1930 auf den „Anwärter-Status“ zurückgesetzt. Dora kam aus einer politischen Familie, ihre fünf Brüder waren u.a. auch im ISK aktiv.

Ab Ende des Jahres 1933 fungierte Karl Wagner, wahrscheinlich auch wegen seiner wenig prominenten Stellung innerhalb des ISK, als Deckadresse für den Empfang von illegalem Material des ISK. Die Ortsgruppe hatte inzwischen zwei Fünfergruppen für die illegale Arbeit gebildet. Eine wurde von Fritz Körber geleitet, dem Wagner dieses Material aushändigte. Die illegalen Schriften wurden aus den Niederlanden zunächst über den Postweg, dann auch über das Eisenbahner-Netzwerk der Internationalen-Transportarbeiter-Föderation ins Reichsgebiet geschleust.16 Er erinnerte sich: Dann kriegte ich in Kaffeepäckchen diese E.Finnen—Briefe‚ die waren auf ganz dünnem Papier gedruckt, wie heute Luftpostpapier.17 (ISK Widerstand Göttingen)

Diese Aufgabe ließ Wagner vorsichtiger werden. Er betonte in seinem Interview, (…) was ich für einen Schiß gehabt habe. Jedes Mal, wenn es an der Tür klingelte – jetzt kommen sie. Die Angst galt nicht zuletzt der eigenen Standhaftigkeit gegenüber den Verhörmethoden der Gestapo. Karl Wagner verpackte seine Bibliothek mit kommunistischen/sozialistischen Büchern und versteckte sie im Wasserwerk.18

Karl Wagner blieb, auch aufgrund der Aussagetaktik von Fritz Körber, von der Verhaftungswelle im Frühjahr 1936 verschont. So blieb die Rolle Karl Wagners als Empfänger der illegalen Schriften der Staatsanwaltschaft unbekannt. Wagner erinnerte sich: Ich habe Schwein gehabt, die haben dicht gehalten. Es kann sein, daß es nur Fritze Körber gewußt hat.19 (ISK Verhaftungen und Prozess)



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Literatur und Quellen

Augenzeugenbefragung Willi Rohrig (30.12.1976). Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77 I, Nr. 78.

Bons, Joachim; Denecke, Viola; Duwe, Kornelia; Löneke, Regina; Tapken, Bernd (Hg.) (1986): „Bohnensuppe und Klassenkampf“. Das Volksheim: Gewerkschaftshaus der Göttinger Arbeiterbewegung von der Entstehung im Jahre 1921 bis zu seiner Zerstörung 1944. Göttingen.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an Bundesvorstand: Briefe, Berichte 1930-33. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK000012.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand: Monatsberichte 1929. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK00018.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand: Monatsberichte 1927. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK00014.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand: Monatsberichte 1930. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK00020.

Interview August Stapel (21.01.1977). Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77 I Nr. 90 (Popplow-Box).

Interview mit Karl Wagner (13.04.1984). Archiv Dr. Joachim Bons, ohne Signatur. Interview von Joachim Bons, durchgeführt von Viola Denecke.



1Bons et al. 1986, S. 88.

2Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand, S. 1, Monatsbericht Januar 1927.

3Ebenda, S. 2, Monatsbericht Februar 1927.

4Ebenda, S. 3, Monatsbericht März 1927.

5Ebenda, S. 6, Monatsbericht Juni 1927.

6Ebenda, S. 8, Monatsbericht August 1927, 4.9.27, Fritz Schmalz.

7Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand, S. 1, Monatsbericht Januar 1929.

8Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz A (1925-1933), ISK-Untergliederungen an ISK-Bundesvorstand, S. 1, Vierteljahresbericht 1/1930.

9Ebenda, S. 5, 16.5.1930, Willi Eichler an OVV.

10Ebenda, S. 2, Vierteljahresbericht 2/1930.

11Augenzeugenbefragung Willi Rohrig, 30.12.1976, S. 17.

12Interview mit Karl Wagner, 13.04.1984, S. 1.

13Interview August Stapel 21.01.1977, S. 2.

14Interview mit Karl Wagner 13.04.1984, S. 1.

15Ebenda, S. 4.

16Ebenda, S. 2.

17Interview mit Karl Wagner 13.04.1984, S. 2, Interview Karl Wagner.

18Ebenda, S. 4.

19Interview mit Karl Wagner 13.04.1984, S. 3, Interview Karl Wagner.

Rainer Driever