Maria Kneisel

wurde am 29.4.1889 in Perleberg geboren. Ihre Ausbildung als Lehrerin absolvierte sie in Kassel von 1908 bis 1912 in den Fächern Zeichnen und Turnen. Zunächst war sie an der Volksschule in Wetzlar als Zeichenlehrerin tätig, ab dem 1.10.1913 arbeitete sie an der Mädchen-Mittelschule (Personnschule) in Göttingen.1

Im Zusammenhang mit der ISK-Ortsgruppe taucht sie bis 1932 nicht auf, war aber im Lehrerkampfbund aktiv. Am 20.9.1932 richtete die Versammlung des Elternbeirats der Personnschule einen Brief an den Stadtschulrat Koch. Darin wird ein Vorfall während der Schul-Verfassungsfeier am 16.8.1932 geschildert. Zwei Lehrerinnen, Erna Siem und Maria Kneisel, hätten am Schluss der Feier die Nationalhymne nicht mitgesungen, obwohl sie wussten, dass sie von den ihnen gegenüberstehenden Kindern beobachtet wurden. Die Schulkinder erzählten sich zudem untereinander und ihren Eltern, dass die beiden genannten Lehrerinnen der kommunistischen Partei Deutschlands angehören, sie sich an den öffentlichen Umzügen dieser Partei beteiligen sowie dass sie ihren Austritt aus der Kirche, ihre Teilnahme an kommunistischen Jugendweihen und ihre Beziehungen zum ISK ganz öffentlich, ja sogar vor der Lehrerschaft vertreten.

Außerdem wäre ein Schwinden der Autorität beider Lehrerinnen dadurch gegeben, dass sich viele Kinder in Beziehung auf die Parteizugehörigkeit dieser beiden Lehrerinnen abfällig äussern, sie den Eltern gegenüber lächerlich machen und sich bei öffentlichen Umzügen der KPD zusammenrotten und auf ihre Lehrerinnen mit Fingern zeigen.

Internationale heidnische Lehrerinnen an einer evangelischen Mädchenmittelschule – das konnte von der nationalen evangelischen Elternschaft so nicht hingenommen werden. Wegen der oben genannten Umstände wäre durch scharfe Maßnahmen sofortige Abhilfe dringend erforderlich.2

Maria Kneisel antwortete dem Schulrat am 14.1.1933. In ihrem Brief bestritt sie ihre Mitgliedschaft in der KPD. Die Jugendweihen, an denen sie teilgenommen hat, würden vom Freidenkerverband ausgerichtet, einer parteipolitisch neutralen Organisation. An KPD-Demonstrationen nehme sie nicht teil, sehr wohl hingegen demonstriere sie am 1. Mai mit den Freien Gewerkschaften. Sie fuhr fort: Wie man einem Menschen einen Vorwurf daraus machen kann, dass er seinen weltanschaulichen und politischen Standpunkt in der Oeffentlichkeit und „sogar gegenüber der Lehrerschaft“ vertritt, verstehe ich überhaupt nicht. Nach Artikel 130 der Reichsverfassung dürfe sie sich durchaus für den ISK einsetzen, Paragraph 136 erlaube auch Beamten den Austritt aus der Kirche.3

Daraufhin lud Schulrat Koch beide Lehrerinnen am 28.2.1933 zu einer Besprechung. Zwei Tage später verfasste Erna Siem noch einen Nachtrag dazu, dem Maria Kneisel ausdrücklich zustimmte. In ihrem Brief betonte sie, dass der Schulelternrat aus ihrer Nichtzugehörigkeit zur Landeskirche keineswegs ein Urteil über ihren Standpunkt zur Religion ableiten könne. Siem unterstrich, weder Atheistin noch Materialistin zu sein. Sie verwies zu den Grundlagen ihrer religiösen Weltanschauung auf Kant, Fries und Nelson. Dann zitiert sie aus Nelsons System der philosophischen Rechtslehre und Politik: Er spreche dort von einer Kirche die eine freie Kultgemeinschaft zur Pflege des religiösen Gefühls darstellt, „die über die gemeinsame andächtige Verehrung des für alle gleich Unerforschlichen hinaus ihren Mitgliedern nichts zumutet, als in gegenseitiger Achtung ihrer gleichen, durch keine Autorität einzuschränkenden Rechte ihre Pflicht zu erfüllen.“ Zur Beurteilung ihrer Stellung zur Nation wären ihre Taten die Kriterien.4

Daraufhin wurde der Rektor der Mädchen-Mittelschule, Heinrich Dude, am 3.3.1933 vom Stadtschulrat vernommen. Dude äußerte sich zu den Ausführungen beider Lehrerinnen und machte dabei ein beträchtliches Sündenregister auf: Verweigerung der Teilnahme an Schulfeiern religiösen Charakters, Verweigerung der Andacht am Volkstrauertag zu Ehren der im Weltkrieg Gefallenen, ein besonderer Hinweis von Siem in ihrer Verfassungsrede „August 1931“ auf die Möglichkeit der selbständigen Abmeldung vom Religionsunterricht mit 14 Jahren (versteckte Aufforderung), Verweigerung des gemeinsamen Reformationsgottesdienstes der Göttinger Schulen, Aufforderung zur Abmeldung der Kinder vom Religionsunterricht in einer Rede im Stadtparksaal vor 1000 Zuhörern sowie die Weiherede auf einer Jugendweihe der Freidenker 1929. (ISK Freidenker)

Zudem kam der Rektor zu der Überzeugung, dass Frl. Siem jede nationale Betrachtungsweise ablehnt und einem Internationalismus zustrebt, der sich vom Kommunismus wenig unterscheidet. Außerdem lobe sie den sowjetischen Fünfjahresplan. Die Diskussionen im Lehrerzimmer zwischen den 7 durchaus national eingestellten Damen und diesen beiden Fremdlingen (hätten) zu ausserordentlich heftigen Debatten in den Pausen geführt. Der Unterricht der beiden Lehrerinnen sei allerdings nicht zu bemängeln.5

Nach dem Gespräch mit dem Rektor wandte sich der Göttinger Stadtschulrat an den Regierungspräsidenten. Kneisel und Siem seien noch persönlich von Leonard Nelson geprägt worden, der einen dämonischen Einfluss ausübte. Politisch würden seine Ideen vom ISK vertreten, dessen Bundeszeitung ISK hier in Göttingen, Barfüsserstraße 7/8 bei dem Buchhändler Robert Peppmüller gedruckt würde. Er gab dem Regierungspräsidenten seinen Standpunkt deutlich zu verstehen, indem er schrieb, dass ich den weltanschaulichen Standpunkt der beiden Lehrerinnen mit den Interessen und Zielen einer deutschen und christlichen Lehranstalt (…) nicht (für) vereinbar halte.6

Am 20.3.1933 wurde ein Dienststrafverfahren gegen Maria Kneisel und Erna Siem eingeleitet.7 Am 10.4.1933 wurden zudem die Wohnungen der beiden im Steinsgraben durchsucht. Mitgenommen wurden mehrere Jahrgänge des isk, neun Hefte und zwei Bücher, deren Inhalt linksseitig eingestellte Politik ist, und Flugblätter und Schriftstücke, die ebenfalls linksseitig eingestellte Politik und Freidenkertum erkennen lassen. Dazu kamen noch mehrere Exemplare des Funken, der Sonntagszeitung und des Freidenkers.8

Am 10.4.1933, drei Tage nach Erlass des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, schrieb der stellvertretende Vorsitzende der NSDAP-Ratsfraktion eine Vorlage an den Magistrat, in dem er die Entlassung der dem ISK nahestehenden Lehrer forderte. (ISK Göttingen 1933-1935)

Am 12. April erscheint Maria Kneisel im Bericht des Kriminalsekretär Griethe unter der Anzahl intelligenter Personen, darunter auch Lehrer und Lehrerinnen zusammen mit Rudolf und Hermann Küchemann, Heinrich Düker, Elsa Adomeit und Erna Siem.9 (Polizeibericht PDF)

Bei ihrer polizeilichen Vernehmung am 28.4.1933 gab Maria Kneisel an, von 1926-1932 dem ISK angehört zu haben. Nun gehöre sie keiner politischen Richtung mehr an. Die beschlagnahmten Zeitungen habe sie zu wissenschaftlichen Zwecken gekauft, zudem wollte sie sich über die politische Lage orientieren.10

Das Dienststrafverfahren zog sich hin, im Sommer sollten in der Sache Siem und Kneisel noch einmal Zeugen vernommen werden.11 Schließlich wurde das Verfahren am 10.4.1934 eingestellt, die meisten Vorwürfe waren tatsächlich gegenstandslos, die Beziehungen zum ISK reichten für eine Bestrafung nicht aus.12 So wurde die vorläufige Dienstenthebung zum 30.4.1934 beendet und Maria Kneisel arbeitete weiter in der Personnschule.13 Am 27.8.1934 erfolgte die Vereidigung der Göttinger Lehrer auf Adolf Hitler.14 An der Versetzung von Kneisel wurde aber bereits gearbeitet, am 1.12.1934 trat sie eine Stelle an einer Mittelschule in Essen an.15



_____________________________________________________________________

Quellen

Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK). Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Göttingen, Fach 155, Nr. 5.

Schulakte Erna Siem: ISK-Lehrer. Stadtarchiv Göttingen, Schulverwaltungsamt C 44, Lehrerpersonalakte: Erna Siem.

Schulakte Maria Kneisel: ISK-Lehrer. Stadtarchiv Göttingen, Schulverwaltungsamt C 44, Lehrerpersonalakte: Maria Kneisel.



1Schulakte Maria Kneisel, S. 1, Personalbogen Kneisel.

2Ebenda, S. 4, 20.9.1932 - Elternbeirat der evang. Mädchenschule (Personnschule) an Stadtschulrat - Denunziation Siem und Kneisel.

3Ebenda, S. 6, 14.1.1933 - Kneisel an Schulrat Koch.

4Ebenda, S. 7, 2.3.1933 - Siem an Schulrat - Verteidigung gegen Anschuldigungen.

5Ebenda, S. 10, 3.3.1933 - Vernehmung Mittelschulrektor Heinrich Dude durch Stadtschulrat Koch, Sache Siem und Kneisel.

6Ebenda, S. 8-9, 3.3.1933 - Stadtschulrat an Reg. Hildesheim, Abt. II - Sache Siem und Kneisel.

7Ebenda, S. 17, 24.3.1933 - Reg.Abt. für Kirchen- und Schulwesen, Hildesheim an Magistrat Göttingen – Kneisel.

8Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), S. 67, Bericht Röttgen vom 10. April 1933, Durchsuchungen bei Siem und Kneisel

9Ebenda, S. 74, 74, 12.4.1933.

10Ebenda, S. 68, 28.4.1933 - Vorladung Maria Kneisel, biografische Daten.

11Schulakte Erna Siem, S. 15, 11.7.1933 - Stadtschulrat - Vernehmungen von Zeugen zu Dienststrafverfahren.

12Schulakte Maria Kneisel, S. 25, 10.4.1934 - REM Abschrift - Einstellung des Dienststrafverfahrens gegen Kneisel.

13Ebenda, S. 21, 26.4.1934 - Städt. Schulrat an Maria Kneisel.

14Ebenda, S. 24, 21.10.1937 - Jungbehrenz an Kneisel – Vereidigungsnachweis.

15Ebenda, S. 23, 15.11.1934 - Reg.Präs. Düsseldorf an Kneisel - Übertragung einer neuen Stelle.

Rainer Driever