Schutzhaft und Einschüchterung

Ähnlich wie Einbeck besaß Hann. Münden mit Hermannshagen ein fast homogenes Arbeiterviertel, 1925 waren dort 67,1 % der Berufstätigen in Industrie und Handel beschäftigt. Die Schmirgelwerke Pannerts und Wandmacher (Organisationsgrad im Fabrikarbeiterverband im Jahre 1932 von 92%) sowie Kautabakfabrik Fischer & Herwig (nahezu 100% Organisation im freigewerkschaftlichen Takakarbeiterverband) waren sog. „Rote Buden“. Technischer Leiter des Arbeitersportkartells im Kreis Münden war z.B. der Tabakspinner Ludwig Gutberlet, der bereits vorher in der Freien Turnerschaft tätig war. Der Tabakarbeiter Karl Rettig war Kassierer des SPD-Wahlvereins, auf den lokalen Kandidatenlisten für die Kommunalwahl 1933 waren überdurchschnittlich viel Arbeiter aus der „Priemchenbude“ wie auch aus dem Arbeiterradverein Solidarität vertreten. Die Arbeiterradler, auch bezeichnet als Rote Kavallerie, waren zentrale Figuren in Wahlkämpfen und Verteilungsaktionen.

Die Wahlergebnisse in Hermannshagen („Rotenburg an der Werra“) waren dementsprechend. In der bereits behinderten Reichstagswahl vom 5. März 1933 erzielten die KPD 17,4 % und die SPD 67,1 % der Stimmen. Der NSDAP gelang mit 12,7 % erstmals ein zweistelliges Ergebnis.1

Für den 14. Februar hatte die Eiserne Front in Hann. Münden zu einer Kundgebung aufgerufen. KPD und Antifa hielten ihre Mitglieder dazu an, gemeinsam mit der Eisernen Front zu demonstrieren. Der „Funke“ zitierte den Versammlungsleiter: Der heutige Abend beweist, daß die Arbeiter zusammengehen können. Wir fordern von den Spitzenorganisationen der Arbeiterbewegung, daß sie alles tun, um zur Einheitsfront zu kommen. Doch dafür war es inzwischen bereits zu spät geworden.2

Nach ungefähr drei Wochen unternahmen die neuen Machthaber in Hermannshagen eine massive Einschüchterungskampagne. Zuvor hatte es keine Formation der NSDAP gewagt, Hermannshagen zu betreten. Am 19. Februar unternahmen 400 Nationalsozialisten dort einen Propagandamarsch, darunter sämtliche Abteilungen der Göttinger SS. Unterstützt wurden sie durch den Schutz der Mündener Polizei, verstärkt durch die Schutzpolizei und ein Überfallkommando aus Kassel. Am Sonntagnachmittag, dem 19. Februar, zogen sie so geschützt durch Hermannshagen. Die Mündenschen Nachrichten kommentierten: Die SA u. SS ist durch Hermannshagen marschiert! Das schien so ungeheuerlich und ist doch nun wahr. (M.N. 20.2.33)3

Eröffnet wurde der sich nun anschließende mehrmonatige Terror durch eine groß angelegte Durchsuchungsaktion in Hermannshagen am 19. März 1933, zu der der Göttinger Senator Gnade extra 500 SA- und SS- Männer abgestellt hatte.4 Die Ausbeute war marginal. Material, das eine sofortige Festnahme der Inhaber rechtfertigen könne, wurde nicht vorgefunden. Die beabsichtigte Wirkung galt aber dem Selbstbewusstsein der dort Wohnenden, nach Einschätzung der Durchführenden hatte die Aktion eine außerordentlich moralische Einwirkung auf die radikalen Elemente. (PDF nach Hruska (1993), S. 109-110.) 5

Zudem wurde Druck ausgeübt. Die ersten Hann. Mündener Kommunisten saßen bereits in Schutzhaft, als Hermann Natge‚ Funktionär der SPD, des Sportvereins und der Gewerkschaft im ADGB, im März 1933 von der NSDAP aufgefordert wurde, alle Funktionen und jegliche Tätigkeit in den betreffenden Organisationen aufzugeben. Anderenfalls drohe ihm Schutzhaft.6

Schutzhaft und Repression

Am 28. März wurde Heinrich Lietz als erstes SPD-Mitglied zusammen mit 9 Kommunisten in Schutzhaft genommen. Lietz war Polizeihauptmann in der Polizeischule Hann. Münden und leitete die Ausbildung des Reichsbanners und deren Wehrverbände. Anlass der Inschutzhaftnahme war demonstratives Aufmarschieren. Die Schutzhäftlinge wurden in das Göttinger Polizeigefängnis überführt. Dorthin kamen auch alle folgenden Häftlinge, da in Hann. Münden keine Unterbringungsmöglichkeiten existierten.7 Nachdem sich Lietz am 4. April mit einem Gesuch an das Landratsamt gewandt hatte, in dem er sich verpflichtete, sich jeder politischen Betätigung zu enthalten8, erfolgte nach Rücksprache mit Kreisleiter Soest und Polizeikommissar Meier, Hann. Münden, die grundsätzliche Einwilligung zur Entlassung.9 Seine Entlassung zog sich aber noch einen Monat hin und erfolgte am 8. Mai. Die Umstände verursachten noch einigen bürokratischen Aufwand, weil der Polizeihauptmann Lietz zu gleicher Zeit mit 5 anderen Schutzhäftlingen aus der Schutzhaft entlassen worden war und Kreisoberinspektor Selge Lietz ohne Unterschrift unter die Verpflichtungserklärung entließ.10 Das Nachspiel für Lietz bestand nicht nur in der täglichen zweimaligen Meldung bei der Polizei Münden sondern auch in einem Prozess vor dem Schöffengericht Göttingen am 28. Mai, dessen Hauptverhandlung wegen ungenügender Beweise vertagt und anscheinend nicht wieder aufgenommen wurde.11 Noch im September, Lietz war bereits nach Kiel umgezogen, bat der Landrat den Polizeipräsidenten in Kiel um eine Postüberwachung von Lietz, da dieser noch im Briefkontakt mit ehemaligen Schutzhäftlingen in Münden stehe.12

Der 1. Mai geriet auch in Hann. Münden zu einer Demonstration der Stärke der neuen Machthaber bzw. der Ohnmacht der linken Kräfte. Fritz Michalski erinnerte sich: Also in Münden war das so, daß fast sämtliche Betriebe angetreten waren zur Maidemonstration 33. Die Arbeiter hatten alle von ihren Betrieben eine Mütze geschenkt bekommen, alle ’ne Einheitsmütze, so ’ne blaue Deckelmütze. Meine Frau und ich, wir haben hinterm Fenster gestanden. Haben beide geheult, daß wir das erleben mußten. Wie alle Arbeiter hinter dieser Fahne her marschierten, hinter der SA her marschierten. (...) Die Arbeit hatten, die hatten Angst, daß sie die Arbeit verloren, wahrscheinlich; andere hatten Angst, sie würden eingesperrt. (...) Die Einschüchterung hat da schon stark gewirkt. Die Betriebe haben ihre Beschäftigten durchgezählt. Vor den Betrieben sind die angetreten zu den Sammelplätzen und haben die Leute fest in der Hand gehabt. (Interviewauszug Fritz Michalski, vom 21.10.1976)13 Das bedeutete aber keineswegs, dass man nach den offiziellen Feiern keine eigenen veranstalten konnte.

Die Anzahl der Schutzhäftlinge war Anfang Mai 1933 verhältnismäßig gering, die SPD bislang kaum betroffen. Am 19. Mai meldete die Göttinger Zeitung die Auflösung der Mündener Ortsgruppe der SPD. Nach dem Betätigungsverbot für die SPD vom 22. Juni erhielt die Ortspolizei Mündens einen Funkspruch des Geheimen Staatspolizeiamtes (Gestapa) Berlin, woraufhin am 24. Juni eine Reihe Hann. Mündener SPD-Leute in Schutzhaft genommen wurden:

1. Eduard Kaldauke, Adolf-Hitler-Str. 7

2. Wilhelm Mayer, Vogelsang 51

3. Adolf Kaldauke, Begemannstr. 25

4. Ludwig Dörfler, Burckhardtstr. 3

5. Otto Meyer, Tanzwerder 641

6. Ferdinand Kaldauke, Wilhelmhäuserstr. 45

7. Karl Rettig, Begemannstr. 22

8. Georg Jünemann, Adolf-Hitlerstr. 8

9. Fritz Michalski, Göttingerstr. 4

10. Louis Abel, Bergstr. 28

11. Julius Wenzel, Blume 20

12. Ferdinand Schrader,

13. Wilhelm Peters

14. Werzeiko, Otto (Verhaftung am 25.6.)

15. Carl Sterberg

16. Georg Jünemann

17. Adolf Kerdancke

18. Otto Böhl, Parkstr. 3 (Verhaftung am 25.6.)

19. Eduard Vollmer (Verhaftung am 25.6.)

und 20. Schuldirektor Emil Cammann (Verhaftung 26.6.).14

Eduard Kaldauke und Wilhelm Meyer wurden am folgenden Tag wegen Haftunfähigkeit wieder auf freien Fuß gesetzt. Der Direktor der Mädchenschule Emil Camman wurde aus dem Gerichtsgefängnis Göttingen wegen gesundheitlicher Schwierigkeiten am 1. Juli entlassen, musste sich aber täglich bei der Ortspolizei Münden melden und wurde weiter überwacht.15

Am 25.7. wurden Ferdinand Schrader, Ludwig Dörfler, Julius Wenzel, Fritz Michalski, Otto Werzeiko und Ferdinand Kaldauke wieder aus der Schutzhaft entlassen.16

Wie in anderen Städten auch, beteiligten sich Parteigliederungen an der Verfolgung. Am 17. August 1933 wandte sich die Kreisleitung an den Landrat und bat um die Versetzung der Polizei-Hauptwachtmeister Flohr, Dalichow und Tröbe aus Hann. Münden. Alle drei gehörten der SPD an und wären mit die schlimmsten Gegner der Nationalsozialistischen Bewegung. Die Kreisleitung verpackte ihr Anliegen in ein Obrigkeits-konformes Argument: Alle drei Polizisten würden nicht die notwendige Achtung, die ein Polizeibeamter haben muss, bei der Mündener nationalsozialistischen Bevölkerung finden und stets auf Missachtung und Widerstand stossen. Die nat- soz. Bevölkerung in Münden ist eben auf diese drei Leute besonders erbittert (…).17

Zu den Einschüchterungsmaßnahmen gehörte auch die Meldepflicht bei der Polizei, die nach Entlassung aus der Schutzhaft verhängt werden konnte. Das bedeutete den täglichen Kontakt mit einem Organ der Repression und war zudem auch nicht unaufwendig. Hermann Kaldauke (in Schutzhaft 24.6 – 18.7.33), seit dem 1. Oktober arbeitslos, bat am 24. Oktober 1933 um eine Befreiung von der täglichen Meldepflicht.18 Zwei Wochen später bat Karl Rettig (in Schutzhaft 24.6 – 18.7.33) ebenfalls um eine Befreiung, weil er diese schlecht mit seiner Arbeit koordinieren könne. 19 Die Meldepflicht wurde ab dem 22. November für die ehemaligen SPD-Angehörigen aufgehoben (Lagerhalter Louis Abel, Vertreter Hermann Böhl, Geschäftsführer Otto Böhl, Filialleiter Ludwig Dörfler, Fabrikarbeiter Ferdinand Kaldauke, Arbeiter Fritz Michalski, Vertreter Otto Meyer, Tischler Otto Reichold, Fabrikarbeiter Ferdinand Schrader, Monteur Otto Werzeiko, Schneider Heinrich Bartheld).20

Ende des Jahres endete die Phase des offenen Terrors gegen die Mündener Arbeiterschaft und die Mitglieder mittlerweile verbotener Organisationen zumindest zeitweise.



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Literatur und Quellen

Boguslawski, Gerd-Uwe; Bons, Joachim et al. (1993): "Allein bist Du nichts …": Bilder, Berichte und Dokumente zur Sozialgeschichte der Metallgewerkschaft in Südniedersachsen. Göttingen: Verl. Die Werkstatt.

Der Funke: Tageszeitung für Recht, Freiheit und Kultur; hrg. vom Internationalen Sozialistischen Kampf-Bund 1932-1933, Berlin, Archiv der sozialen Demokratie, Bonn.

Hruska, Margid; Kropp, Dieter; Quest, Thorsten (1993): Münden in der NS-Diktatur: Exemplarische Analysen und didaktisch aufbereitete Dokumente zum Thema: Fabrikleben und Alltag im Nationalsozialismus. 2. Aufl. Göttingen: Verl. Die Werkstatt.

Schumann, Wilhelm (1973): Ihr seid den dunklen Weg für uns gegangen … : Skizzen aus dem Widerstand in Hann. Münden 1933 - 1939. Frankfurt/Main: Röderberg-Verl.

Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden I; Kreisarchiv Göttingen, LA HMÜ 94.

Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden II; Kreisarchiv Göttingen, LA HMÜ 85.



1Hruska et al. 1993, S. 98f.

2Der Funke 17.2.1933, Nr. 325, S. 3.

3Hruska et al. 1993, S. 99, 19.2.1933 - Propagandamarsch durch Hermannshagen.

4Ebenda, S. 222, 20.3.1933 - M.N. - Polizeiaktion in Hermannshagen.

5Ebenda, S. 109, 18.3.1933 - Durchsuchung Hermannshagen.

6Schumann 1973, S. 22, März 1933 - Hermann Natge - Nötigung zur Aufgabe seiner Ämter.

7Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden II, S. 12, 28.3.1933 - Ortspolizei Münden - Haussuchungen und Festnahmen KPD.

8Schutzhaft Sund politische Polizei Hann. Münden I, S. 99, 4.4.1933 - Landratsamt - Gesuch Lietz.

9Ebenda, S. 100, 4.4.1933 - Landrat Bericht Lietz.

10Ebenda, S. 102, 8.5.1933 - Landrat an Reg.Präs. Hildesheim. Der Regierungspräsident war ausdrücklich nicht amüsiert über den Vorfall.

11Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden II, S. 29, 19.6.1933 - Rechtsanwalt Zinn an Landrat - Sache Lietz.

12Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden I, S. 105, 7.9.1933 - Landrat an Polizeipräs. Kiel – Lietz.

13Boguslawski, Gerd-Uwe, Bons, Joachim et al. 1993, S. 151, 1. Mai 1933 - Maidemonstration Hann. Münden.

14Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden II, S. 198, 24.6.1933 - Ortspolizei Münden an Landrat - Inschutzhaftnahme SPD-Funktionäre.

15Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden I, S. 109, 4.7.1933 - Landrat an Ortspolizei Münden.

16Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden II, S. 208.

17Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden I, S. 51, 17.8.1933 - Kreisleitung an Landrat - Entlassung von SPD-nahen Polizisten in Münden.

18Schutzhaft und politische Polizei Hann. Münden II, S. 209, 24.10.1933 - Adolf Kaldauke an Landrat – Eingabe.

19Ebenda, S. 48–49, 7.11.1933 - Eingabe des Karl Rettig an den Landrat.

20Ebenda, S. 120–121, 21.11.1933 - Verzeichnis der Personen mit polizeilicher Meldepflicht - Meldepflicht der SPD-Leute kann aufgehoben werden.

Rainer Driever