Die Arbeit am Projekt Widerstand der Stadt Göttingen steht unter der fachlichen Aufsicht des Stadtarchivs Göttingen. Sie umfasste den Zeitraum von November 2013 bis April 2016. Ziel des Projektes war es, Informationen zu erlangen über Aktionen und Akteure des Widerstands bzw. der Selbstbehauptung in der Stadt (im Umfang der heutigen Stadtteile) sowie deren Verfolgung und der damit zusammenhängenden Organisations- und Ereignisgeschichte in der Zeit von 1933 bis 1945.
Neben der Darstellung des Themas Widerstand ist auf dieser Website auch die erste Repressionsphase der NS-Diktatur beschrieben. Die Gliederung folgt den Organisationen, die von Repression und Terror in Göttingen betroffen waren.
Daneben sind einige typische Deliktgruppen genannt, unter denen die NS-Diktatur eher das individuell abweichende Verhalten abstrafte, das wir heute unter dem Begriff der Selbstbehauptung zusammenfassen. Unterschieden vom tatsächlichen Widerstand wird sie dadurch, dass neben der demonstrativen Bewahrung individueller Werte auch situative Widersprüche gegen Maßnahmen des Regimes darunter gefasst werden, die keine grundsätzliche Gegnerschaft zur Diktatur erkennen lassen.
Neben Göttingen sind mit den Städten Hann. Münden, Einbeck und Northeim regionale Beispiele von Selbstbehauptung und Widerstand aufgenommen.
Die handelnden Personen sind den jeweiligen Organisationen zugeordnet. Ihre Beschreibung orientiert sich zunächst an der Aktion, die sie in Konflikt mit den Verfolgungsbehören des Regimes brachte. Soweit dies möglich war, wurden darüber hinaus biografische Daten zu den Akteuren ermittelt. Diese umfassen aus Gründen der Projektstruktur für Hann. Münden nur die Zeit bis Anfang des Jahres 1934.
Fragen zu Redaktion und
Inhalt:
Dr. Rainer Driever (widerstand-in-goettingen@gmx.de)
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Das
Projekt wurde gefördert vom Landschaftsverband
Südniedersachsen e.V. sowie der Calenberg
Grubenhagenschen Landschaft.
Der Begriff „Widerstand“:
Zunächst einmal ist eine Trennung des Begriffes „Widerstand“ von dem der „Verfolgung“ unabdingbar. Verfolgung in einer Diktatur geschieht auch ohne konkrete Widerstandshandlungen.
Das Vorgehen der
Nationalsozialisten gegen den „politischen Feind“ und die
„Gleichschaltung“ schufen bereits im ersten Halbjahr 1933
eine große Gruppe von Verfolgten. Diese waren, zunächst
als Anhänger oppositioneller Organisationen, durch die Schaffung
neuer strafrechtlicher Tatbestände und ein rasch wachsendes
System von Konzentrationslagern bedroht. Hinzu kamen die ersten
Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung.
Innerhalb
weniger Monate wurde Verfolgung zum Kollektivschicksal. Die
traditionellen politischen Gegner der Nazis versuchten eher die
Verbindung zu den Gesinnungsfreunden zu halten und organisatorische
Zusammenhänge zu bewahren, als dass sie nach einer Gelegenheit
zum Umsturz des Regimes Ausschau hielten. Ausdruck dieser Bemühungen
um Selbstbehauptung war eine spezifische Gruppenbildung, die Hans
Rothfels (1986, 42) als „Kreiselei“ oder „Vereinsmeierei“
bezeichnet hat (Steinbach 1992, 453).
Verfolgung war ein integrativer Bestandteil des Herrschaftssystems der Nationalsozialisten, die von ihnen in der Unterdrückung der politischen Arbeiterbewegung 1933 bewusst als „öffentliches Spektakel“ (Inhaftierung der Funktionäre, Beschlagnahme des Vermögens, Besetzung der Gewerkschaftshäuser) inszeniert wurde. (Marßolek/Ott 1986, 14 f.)
Im Verständnis des Begriffs „Widerstand“ lassen sich zwei grundsätzliche Richtungen ausmachen:
1) Intentionaler
(fundamentalistischer) Ansatz
Dieser definiert Widerstand als
organisierte Versuche der Bekämpfung des NS-Regimes. Verstanden
werden darunter mutige, risikoreiche Aktionen, die das Regime als
Ganzes infrage stellen. Ab der Mitte der 1950er Jahre wurde damit der
Widerstand gefasst, der von Mitgliedern der NS-Funktionselite (20.
Juli, Weiße Rose) ausging, die von der NS-Herrschaftspraxis
enttäuscht waren. Dabei ging man davon aus, dass in einem (nach
der damals gängigen Geschichtsauffassung) totalitären Staat
kein Volkswiderstand möglich war und es deshalb zwangsläufig
nur einen „Widerstand ohne das Volk“ gegeben habe
(Kershaw 1994, 276 f.).
2) Funktionaler
(gesellschaftlicher) Ansatz
Das Projekt „Widerstand und
Verfolgung in Bayern 1933-1945“, 1973 vom Institut für
Zeitgeschichte in München initiiert, erweiterte den bis dahin
vorherrschen Widerstandsbegriff. Statt Motive, Intentionen und Ziele
zu betrachten, wurden Handlungen selbst und deren Wirkungen im
Hinblick auf eine Blockierung oder partielle Behinderung der
nationalsozialistischen Durchdringung der Gesellschaft betrachtet.
Unter Widerstand wird jedes aktive und passive Verhalten
verstanden, das die Ablehnung des NS-Regimes erkennen läßt
und mit einem gewissen Risiko verbunden ist. Peter Hüttenberg,
der erste Projektleiter verstand Widerstand als jede Form von
Auflehnung im Rahmen asymetrischer Herrschaftsbeziehungen gegen eine
zumindest tendenzielle Gesamtherrschaft (Kershaw 1994, 280).
So
kamen bis 1983 in den sechs Bänden des Projektes die
unterschiedlichsten Reaktion auf die Nazi-Herrschaft zu Wort, die
bislang nicht unter der Rubrik „Widerstand“ gerechnet
wurden. Darunter finden sich neben den nun stärker in ihrem
sozialen Milieu betrachteten sozialdemokratischen und kommunistischen
Gruppen auch Verhaltensweisen des „zivilen Ungehorsams“,
wie z.B. die Verweigerung des „Hitlergrußes“,
Einwände von Bauern gegen neue Agrargesetze, Kritik von
Priestern an antikirchlichen Maßnahmen oder Fraternisierung mit
„Fremdarbeitern“ (Kershaw 1994, 281 f.).
Hüttenbergs
Nachfolger Martin Broszat führte zudem den Begriff der
„Resistenz“ ein, ein verhaltensbezogener Begriff, der es
erlaubte, auch Formen partiellen Opponierens innerhalb eines größeren
Widerstandsrahmens zu fassen. Er ermöglichte die Erfassung von
Aktionen oder Verhaltensweisen gegen Teile des NS-Systems, die
durchaus mit (partieller) Zustimmung zum Regime einher gehen konnten
(Kershaw 1994, 283). Relevant war Resistenz dort, wo sie sich auf die
Fähigkeit des Regimes auswirkte, die Gesellschaft nach Belieben
zu manipulieren. Dabei sollte eine breite Skala von Ausdrucksformen
des Widerstands aufgezeigt werden, die von politischer Nonkonformität
bis zu illegaler Untergrundarbeit reichte (Tuchel 2005, 13).
Die
Kritik am Resistenzbegriff (z.B. Walter Hofer) verwies auf die
Nivellierung, die in der Breite des Begriffes bereits angelegt war:
Der Tyrannenmord erschien unter demselben Begriff wie das
Schwarzschlachten. Eine weitere Kritik galt der Wirkung resistenten
Verhaltens: Die unter dem Begriff subsumierten Haltungen hatten wenig
oder keine Wirkung auf das herrschende Regime.
Für diese
Untersuchung bedeutet dies:
Die Website unfasst aktive und
passive Verhaltensweisen sowie Handlungen, die eine partielle und
vollständige Ablehnung des Regimes vermuten lassen. Dabei nimmt
sie den Nationalsozialismus als gesellschaftliches Phänomen in
den Blick. Eine solche, eher alltagsgeschichtliche Dimension eröffnet
die Möglichkeit, zu verstehen, wie sich Menschen im NS-System
positionierten und inwieweit sie sich mit dem Regime arrangierten.
Unter dem engeren Begriff „Widerstand“ werden nur Verhaltensformen subsumiert, die das Bewusstsein über die Folgen der eigenen Handlungen/Aktionen erkennen lassen: Im allgemeinen verbindet sich mit dem Begriff 'Widerstand' im 'totalitären Staat' die Vorstellung, daß diese Handlungen unter bewußter Inkaufnahme der Gefahr von persönlichen Nachteilen, von Maßregeln Inhaftierungen oder gar der Todesstrafe begangen wurden (Zipfel 1965, 3).
Darunter fallen Handlungen, die
a) eine grundsätzliche Ablehnung des Nationalsozialismus annehmen lassen. Widerstand [gegen die NS-Diktatur] ist eine Provokation, welche die Toleranzschwelle des nationalsozialistischen Regimes unter den jeweils gegebenen Umständen bewusst überschreitet mit einer Handlungsperspektive, die auf eine Schädigung oder Liquidation des Herrschaftssystems abzielt (Schönhoven, 1994, 3).
b) Widerstand sollte zudem als eine aktive, nicht notwendigerweise organisierte, Bekämpfung des Systems und seines Führers Adolf Hitler verstanden werden (Graml, 1997, 309). Er sollte erklärtermaßen auf die Unterminierung des Systems oder auf Vorkehrungen für den Zeitpunkt seines Zusammenbruches zielen (Kershaw 1994, 300).
Dieser, eher politische, Widerstand gegen die NS-Diktatur ist als bewusste politische Opposition zu verstehen, die von der weltanschaulichen Dissidenz und der gesellschaftlichen Verweigerung zu unterscheiden ist (Löwenthal 1984, 14). Das Projekt verfolgt das Ziel, auch diese niederschwelligere Verhaltensformen aufzunehmen:
c) Unter dem Begriff der „Selbstbehauptung“ wurden Handlungsformen mit partieller oder begrenzter Zielsetzung aufgenommen, die sich nicht gegen den Nationalsozialismus als System richteten und von Einzelpersonen oder Gruppen ausgingen, die dem Regime und seiner Ideologie zumindest teilweise positiv gegenüber stehen konnten (Kershaw 1994, 301). Dies äußerte sich oftmals als spontan geäußerte Kritik oder Empörung gegenüber einzelnen Aspekten des Regimes und seiner Herrschaftspraxis und musste nicht unbedingt in eine Aktion münden. Ausgeschlossen ist dabei die partielle Opposition von Nationalsozialisten gegen einzelne Maßnahmen des Regimes.
Trotz aller wissenschaftlichen Distanz, die ein professioneller Umgang mit dem Thema nahe legt, lassen sich „Werturteile“ gerade beim Thema Widerstand gegen den Nationalsozialismus kaum vermeiden. Man kann sich solchen Begebenheiten nicht nähern, ohne davon ergriffen zu werden, was für ein Elend der Nationalsozialismus über unzählige Menschen gebracht hat und wie heroisch alle Versuche, ihn zu verhindern bzw. zu stürzen, in Anbetracht der Umstände waren (Marßolek/Ott 1986, 17). Diese Ergriffenheit ist eine angemessene Reaktion auf die Biografien der Menschen. Ihre Geschichten sollen damit eine sichere Überlieferung und eine Anerkennung im öffentlichen Raum erhalten.
Literatur
Peter Steinbach, Der Widerstand gegen die Diktatur. Hauptgruppen und Grundzüge der Systemopposition, in: Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobson (Hrg.): Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 452-490.
Hans Rothfels: Deutsche Opposition gegen Hitler. Eine Würdigung, neue erw. Ausgabe, hrg. v. Herrmann Graml. Frankfurt a.M. 1986.
Ian Kershaw: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Hamburg 1994.
Johannes Tuchel: Der vergessene Widerstand. Zur Realgeschichte und Wahrnehmung des Kampfes gegen die NS-Diktatur (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte ; Bd. 5), Wallstein, Göttingen 2005.
Klaus Schönhoven, zitiert von Christof Rieber, in: Politischer Widerstand in der NS-Diktatur, in: Politik und Unterricht, 2/1994, S. 3.
Herrmann Graml: Widerstand, in: Wolfgang Benz, Herrmann Graml und Hermann Weiß (Hrg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997, S. 309-321.
Richard Löwenthal, Patrik von Zur Mühlen: Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933 bis 1945, Dietz, 1984.
Friedrich Zipfel: Die Bedeutung der Widerstandsforschung für die allgemeine zeitgeschichtliche Forschung, in: Stand und Problematik der Erforschung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, Bad Godesberg 1965.
Inge Marßolek und Réne Ott: Bremen im Dritten Reich. Anpassung – Widerstand – Verfolgung, Bremen 1986.