Die Aktion Gitter

Die Aktion Gitter war keine Folge des missglückten Attentats auf Hitler und stand mit den Ermittlungen gegen die Verschwörer des 20. Juli nicht in Zusammenhang. Bereits 1935/36 wurden führende Politiker der Weimarer Republik auf einer dreiteiligen Liste erfasst. Nach Kriegsausbruch verhaftete die Gestapo die als Staatsfeinde Gelisteten. Nach dem Attentat auf Hitler kam diese Liste wiederum zum Einsatz. Verhaftet wurden reichsweit ungefähr 5000 Personen: KPD-, SPD- und Gewerkschaftsfunktionäre.

Bereits einen Tag nach dem Attentat vom 22. Juli 1944 wurde der ehemalige Einbecker Senator Fritz Lohmann zum Gestapo-Verhör nach Hildesheim gebracht. Nach einem anscheinend ergebnislosen Verhör entließ man den 71-jährigen Sozialdemokraten nach Einbeck mit der Auflage der täglichen Meldung bei der dortigen Polizeidienststelle.

In Einbeck verhaftete man am 9. August im Rahmen der reichsweiten Aktion die Sozialdemokraten Hermann Schelm, Hermann Evers, Wilhelm Messerschmidt, den späteren niedersächsischen Innenminister Richard Borowski, den ehemaligen und künftigen Bürgermeister von Sülbeck Heinrich Blumhagen und den Kommunisten August Fricke.1

August Fricke erinnert sich: (...) Zunächst ging es zur Vernehmung nach Hildesheim zur dortigen Gestapo. Wilhelm Messerschmidt wurde dort entlassen. Die übrigen kamen nach Hannover-Ahlem in das Gestapo-Haftlager auf dem Gelände der ehemaligen jüdischen Gartenbauschule. Dort befand sich auch Dr. Kurt Schumacher, der spätere SPD-Vorsitzende. Unter den Verhafteten waren Ernst Fahlbusch (PDF) aus Göttingen sowie die kommunistischen Genossen Oskar Gläser2, Emil Höll3 und Ernst Liebrenz aus Hannover und Werner Kraatz aus Peine. Mit Dr. Kurt Schumacher hatten wir später keine Verbindung mehr, er war in Neuengamme gleich in die Bibliothek verlegt.

In Ahlem wurden alle Verhafteten aus Süd-Niedersachsen einschließlich Hannover und Braunschweig gesammelt. Von dort ging es mit einem Transportzug nach Neuengamme bei Hamburg-Bergedorf. Es war schon dunkel, als der Zug dort eintraf. Unter Scheinwerferlicht und strenger Absperrung durch die SS mit Schäferhunden wurde ausgeladen. Über den Aufenthalt soll hier nur kurz berichtet werden. Für die in dieser Aktion Verhafteten waren zwei Blocks freigemacht. In jedem der Blocks waren zirka 500 Häftlinge. Zwischen beiden Blöcken war ein Streifen von zirka 5 m Breite, nicht überdacht, er diente zum Aufenthalt an der Luft. Wir Neuinhaftierten wurden von den anderen Gefangenen weitestgehend getrennt gehalten. Im Lager waren auch 2000 Franzosen, die als Geiseln festgenommen wurden, unter ihnen mein französischer Schwager. Er hat dort sein Leben gelassen. Die französischen KZ-Häftlinge wurden ebenfalls getrennt gehalten. Wir sahen sie nur auf dem Appellplatz; sie waren dort nochmals durch einen Zaun getrennt. In unmittelbarer Nähe unseres Blocks befand sich noch ein Drahtkäfig. In ihm befanden sich 15 ehemalige dänische SS-Leute, die ihre Rolle wohl nicht bis zuletzt weiterspielen wollten. Auf dem Rücken ihrer gestreiften Jacke hatten sie einen großen roten Punkt. Wie verlautete‚ war es das Zeichen für Todeskandidaten.

Da für uns eine weitgehende Isolierung bestand, sahen wir nichts von den Hinrichtungen. Doch folgender Vorfall der Brutalitäten der SS sei erwähnt: Der SS-Lagerkommandant kam am ersten Morgen nach unserer Einlieferung zur Besichtigung. Vor der Baracke lag ein Fußabtreter aus Holzleisten, eine Leiste war zerbrochen. Der Kommandant rief den Kapo‚ ein Gefangener, der als Hilfsaufseher für Ordnung sorgen mußte. "Warum", so fragte er, "ist die Leiste kaputt?" Kaum hatte der Kapo erklärt, daß er erst gerade in den Block gekommen sei, hatte er auch schon einen Schlag mit dem Ochsenziemer im Gesicht. Als er zwischen die Pritschen ausweichen wollte, verfolgte ihn der Schäferhund des SS-Mannes.

Wegen Überfüllung des Lagers gab es für fünf Mann zwei Pritschen zum Schlafen. Je zwei auf der schmalen Pritsche‚ der fünfte entweder quer über den beiden oder am Fußboden.

Da die Küche ebenfalls wegen der Überfüllung des Lagers Tag und Nacht kochte, kam das "Essen" in unsere Baracke schon morgens um 6 Uhr. Das "Essen" war unbeschreiblich und undefinierbar. Es war in alten Heringstonnen abgefüllt. In der Mittagszeit stiegen vom Säurungsprozeß schon Blasen hoch. Die Eßnäpfe bestanden zum größten Teil aus alten Konservendosen‚ die Eßbestecke aus rostendem Blech. Zur Reinigung stand vor dem Block eine alte Heringstonne mit Sand. Wie lange der Sand nun schon zur Reinigung der Bestecke verwendet wurde, war nicht bekannt. Er ist aber während unseres Aufenthaltes (vier Wochen) nie gewechselt worden.

Am 9. September wurde die Mehrzahl der in dieser Aktion Verhafteten entlassen, darunter alle Einbecker. Entlassen wurden auch einige KPD-Genossen aus Hannover. Viele blieben zurück, z.B. die Genossen Ernst Liebrenz aus Hannover und Werner Kraatz aus Peine und andere. Werner Kraatz büßte bei der Evakuierung des Lagers noch sein Leben ein.

Es verlautete, daß alle, die zuvor länger als 5 Jahre in Haft gewesen seien, nicht zur Entlassung kämen. Einige Verwunderung rief es hervor, daß auch Dr. Schumacher‚ der früher viele Jahre im KZ Dachau gewesen war, entlassen wurde. Er hat anschließend in den Sichelwerken in Hannover-Limmer, nur wenige hundert Meter vom Gestapo-Haftlager Ahlem entfernt, in der Lagerverwaltung Beschäftigung gehabt. Richard Borowski‚ der vorher im Zementwerk in Vogelbeck beschäftigt war, wurde nach der Entlassung von dem Nazi-Direktor Öchsner im Büro des Zementwerkes weiterbeschäftigt.4



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Literatur

Fricke, August (1981): Erinnerungen, Begegnungen, Erfahrungen. Ein Beitrag zur Geschichte der niedersächsischen Arbeiterbewegung. Einbeck: Selbstverlag.

Wettig, Klaus; Drewes, Karl (Hg.) (2003): 1873-2003. 130 Jahre Sozialdemokratie in Göttingen. 1. Aufl. [Göttingen]: Verlag Die Werkstatt.

Wittrock, Christine (2013): Idylle und Abgründe: die Geschichte der Stadt Einbeck mit dem Blick von unten ; 1900 - 1950. 2. Aufl. Bonn: Pahl-Rugenstein.



1Wittrock 2013, S. 199

2Oskar Glaeser war der Leiter des Gaues Hannover des „Internationalen Bundes der Opfer des Krieges und der Arbeit“, einer Nebenorganisation der KPD.

3Emil Höll war ursprünglich Einbecker Kommunist , er wurde im März 1933 dort in Schutzhaft genommen.

4Fricke 1981, S. 57–58.