Eisenbahner-Widerstand

Nach der Machtübertragung erfolgte, wie in anderen Betrieben oder öffentlichen Verwaltungen, eine Entlassungswelle politisch unliebsamer Personen. (Zum Reichsbahnausbesserungswerk und dem Eisenbahner-Widerstand: Günther Siedbürger 1995). Im Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) traf es vor allem die Mitglieder im Einheitsverband der Eisenbahner Deutschlands (EdED). Ein Zeitzeuge erinnerte sich: Im Ausbesserungswerk wurden am 31.3.1933 vier Kollegen fristlos entlassen. Sie erhielten vier Wochen keine Arbeitslosenunterstützung. Diesen Kollegen folgten am 7.7. zum 21.7. 40 und am 8.8. zum 22.8. weitere 20 Kollegen. (...) Die Entlassenen waren ohne Ausnahme Mitglieder des Einheitsverbandes. Den Kollegen, die in Arbeit blieben, wurde das Sprechen mit den Entlassenen untersagt.1

Der Eisenbahnerverein von 1898 wurde aufgelöst, seine Unterlagen beschlagnahmt und ein Teil der 2000 Bände umfassenden Vereinsbücherei bei der Göttinger Bücherverbrennung am 10.5.1933 vernichtet.2

Nach der Zerschlagung der Gewerkschaften im Mai 1933 konnte die Deutsche Arbeitsfront im Ausbesserungswerk nicht recht Fuß fassen. Der Einfluss der Entlassenen blieb teilweise erhalten und wurde maßgeblich für den Widerstand, der in Göttingen aus den Reihen der Eisenbahner hervorging.3

Beschäftigte, die zum Teil maßgebliche Positionen im Deutschen Eisenbahner-Verband (DEV) und dem Einheitsverband der Eisenbahner Deutschlands (EdED) innegehabt hatten, behielten ihren Einfluss auf die Beschäftigten auch nach ihrer Entlassung. Zu ihnen gehörten der frühere Geschäftsführer des DEV Theodor Bernhardt und vor allem der ehemalige Betriebsratsvorsitzende Hermann Fraatz.4

Fraatz war Mitglied des illegalen Eisenbahner-Netzwerkes, das von Hans Jahn aufgebaut wurde. (ITF Organisation) Er arbeitete für Jahn als Vertrauensmann im Gebiet des Reichsbahndirektionsbezirks Kassel. Bereits 1934 traf sich Jahn mit Hermann Fraatz, Walter Fassauer, Oskar Schmitt und anderen. Fraatz wurde bei dieser Gelegenheit als Gaugraf des Gaues Kassel eingesetzt. Dieser umfasste mit dem Vorort Göttingen die Stützpunkte Seesen, Höxter, Northeim, Kreiensen und Kassel.5

Hans Jahn entzog sich Mitte 1935 einer drohenden Verhaftung durch Flucht in die Niederlande. Bereits in den folgenden Monaten wurden seine Kontakte zu den verschiedenen Stützpunkten über Hugo Bachmann (Hugo Bachmann) als Kurier aufrechterhalten. Auf seinen Fahrten traf er sich im Herbst in Göttingen auch mit Hermann Fraatz und Oskar Schmitt als den Verantwortlichen für den Gau Kassel.6

Oskar Schmitt hatte 1935 die Gelegenheit, an zwei Konferenzen der ITF teilzunehmen, die er nutze, um Kontakte zu ehemaligen Mitgliedern der Gewerkschaften aus der Region zu knüpfen. Zu Ostern in Roskilde (Dänemark) und im Herbst in Amsterdam hatten ITF-Gewerkschaftsfunktionäre die Gelegenheit, sich in Gesprächen mit insgesamt 27 Vertrauensleuten und Bezirksleitern aus dem Eisenbahner-Netzwerk ein genaueres Bild über die Situation im Reichsgebiet sowie über Bedingungen und Umfang des Widerstandes zu machen. Solche Gespräche fanden u. a. auch mit Oskar Schmitt statt.7 (Oskar Schmitt) Im Anschluss an die Konferenz von Amsterdam wurde Oskar Schmitt als Gaugraf für Kassel ernannt und erhielt konkrete Vorschläge, wie die Organisation weiterzuführen sei.8 Seine Tätigkeit als Gaugraf war nur von kurzer Dauer, Mitte Januar 1936 wurde er wegen seiner Tätigkeit im ISK verhaftet.

Die illegale Arbeit der Eisenbahner lag vor allem in der Informationsbeschaffung und im Transport von illegalem Material in das Reichsgebiet. Dies war zum Teil genuines Eisenbahnermaterial, wie die Zeitschrift Fahrt frei!, die Untergrundzeitung des Einheitsverbands der Eisenbahner Deutschlands/Sektion der ITF.9 Zum anderen transportierten die Eisenbahner das illegale Material des ISK ins Reichsgebiet. (ITF Verbindungswege)

Die Verteilung des Informationsmaterials wurde ab Mitte 1934 gezielt über Vertrauensleute vorgenommen, in Göttingen also durch Hermann Fraatz. Der Inhalt der illegalen Materialien speiste sich mehrheitlich aus den aktuellen Berichten aus den einzelnen Bezirken. Diese wurden aber aus Sicherheitsgründen erst in Amsterdam schriftlich fixiert, wo sich das Büro der ITF befand.10 Bereits für den März 1934 hat ein solcher aus dem Gau Kassel (also dem Zuständigkeitsbereich von Fraatz) seine Spur in der Korrespondenz Hans Jahns hinterlassen.11

Bei seinen vierteljährlichen Treffen traf Jahn die einzelnen Mitglieder des Netzwerkes, die Kontakte waren bereits kurz nach der Machtübertragung geknüpft worden. Bewaffnung war nur für die Spitzenfunktionäre zugelassen, wird also für Göttingen keine Rolle gespielt haben.

Wenn diese Vier-Augen-Gespräche durch aktuelle Meldungen ergänzt werden mussten, wurden in Ausnahmefällen Postkarten benutzt, die unter einem anderen Namen aufgegeben und nur mit einem Gruß versehen wurden. Dabei war das Bild der Ansichtskarte die Information:
Bahnhof = Gefahr
Gartenanlagen = alles gedeiht
Straßenbilder, Häuserblocks = wichtige Mitteilungen sind vorhanden.

Das Personal für Göttingen und Umgebung ist nur rudimentär bekannt. Neben den o.g. Walter Fassauer und Oskar Schmitt spielten noch Herr Fengewisch (Betriebsrat, SPD) und Herr Becker eine bislang nicht bekannte Rolle.12

Hermann Fraatz unterhielt Verbindungen nach Kassel zu Herrn Henrichs. Ebenfalls für die Organisation war Herr Engel aus Göttingen mehrmals in Kassel.13 Drei andere Namen erfahren wir noch durch die Verhaftungswelle im Januar 1936, die eigentlich dem ISK und seinen Sympathisanten galt, in Göttingen aber auch einige Mitglieder von Jahns Organisation traf.14

Die Verbindungen nach Göttingen funktionierten gut, 10 Tage nach den Verhaftungen wusste man in der Amsterdamer Zentrale, dass etwas in Göttingen passiert war. Hans Jahn berichtete noch etwas später, am 12. Februar, die Einzelheiten an Edo Fimmen. Grundlage dafür war ein Bericht, den einer meiner Leute, der in G. (Göttingen, RD) war, persönlich überbracht hat. Nach eingezogenen Informationen wurden am 16.1.36 in Göttingen ungefähr 65 Leute, die angeblich der Nelson-Bewegung angehören sollen, verhaftet. (...) Unter den Verhafteten befinden sich 4 Mitarbeiter (des Eisenbahner-Netzwerks, R.D.) (Oskar Schmitt, Westernhagen, Bode, und Kleinschmidt) davon sind zwei verheiratet. Bisher ist nicht festgestellt worden, dass die Verhafteten wegen ihrer Tätigkeit zu unserer Gruppe hochgegangen sind. Der Grund für die Verhaftung ist lediglich in der Verteilung von illegalen Zeitschriften und Flugblättern zu suchen. Auch die bisherige Untersuchung hat bisher keine anderen Momente als Grund der Verhaftung ergeben. Dass die Verhaftungswelle mit unserer Arbeit nichts zu tun hat geht daraus hervor, dass sämtliche Stützpunkte im Gau 10 unberührt geblieben sind.15 (ISK Verhaftungen)

Mit Oskar Schmitt und Heinrich Westernhagen traf es zwei Personen, die parallel im ISK engagiert waren, was die enge Zusammenarbeit beider Organisationen unterstreicht. Zu der Anlage eines Gelddepots in Göttingen, das für das Frühjahr 1936 geplant war, wird es aufgrund der Verhaftungen wohl nicht mehr gekommen sein.16 Hermann Fraatz übernahm nach dem Verhaftungen die Organisation erneut. Ob die Verbindungswege für Göttingen weiterhin so gut funktioniert haben, kann nur durch neue Aktenfunde beleuchtet werden. (ITF Sabotageaufruf PDF)

Im September 1944 wurde vom ISK-Auslandsvorstand Jupp Kappius mit dem Fallschirm über dem Reichsgebiet abgesetzt. Er sollte Informationen sammeln, einige davon betrafen das Reichsbahnausbesserungswerk in Göttingen. Es ging um die wichtige Frage der Transportkapazitäten für die Wehrmacht und eine Abschätzung der Folgen des alliierten Bombardements auf die Nachschubwege. Kappius schrieb in einem Bericht: With leading people on Hamburg, Bremen, Hannover, Berlin, Göttingen, Kassel, Darmstadt, Ulm and Frankfurt/Main we kept regular contact by courier (regular except Ulm). This contact we used to stimulate and encourage activities on the lines we had started in the Ruhr (…) Our communications with the outside world consisted only of postcards containing messages concealed in the text which we sent off every 3-4 weeks.17

Für den 1.1.1945 notierte er: Drei Wochen später war der gleiche Mann verzweifelt und führte das Ergebnis von zwei Tagen vor: 48 Schadlokomotiven allein in dem AW Göttingen. Die Reparatur bei vielen dieser Schadlokomotiven soll nicht mehr als vier oder fünf Tage dauern. Viele Schadloks stehen auf den beschädigten Strecken und können nicht in die RAW gebracht werden (…).18 Ende des Monats fügte er noch hinzu: Beim letzten Angriff auf den Verschiebebahnhof Göttingen fielen 2-300 Bomben aufs freie Feld, der Bahnhof selber blieb unbeschädigt.19



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Literatur und Quellen

Gottwaldt, Alfred Bernd (2009): Eisenbahner gegen Hitler. Widerstand und Verfolgung bei der Reichsbahn 1933-1945. Wiesbaden: Marix-Verlag.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz B (1933 - 1946): Korrespondenz 1934. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK000027.

Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz B (1933 - 1946): Korrespondenz 1936. Archiv der sozialen Demokratie, 4/IJB-ISK000029.

InternationaleTransportarbeiter-Föderation; Aufzeichnungen über Personen: Personallisten. Archiv der sozialen Demokratie, 5/ITFA000097.

InternationaleTransportarbeiter-Föderation; Aufzeichnungen über Personen: Schmitt, illegales Netzwerk. Archiv der sozialen Demokratie, 5/ITFA000096.

Mielke, Siegfried, Heinz, Stefan (Hrsg.) (2013): Gewerkschafter in den Konzentrationslagern Oranienburg und Sachsenhausen. Biographisches Handbuch, Bd. 4. Unter Mitarbeit von Julia Pietsch. Berlin: Ed. Hentrich (Gewerkschafter im Nationalsozialismus: Verfolgung - Widerstand - Emigration, 6).

Rüther, Martin (1998): Deutschland im ersten Nachkriegsjahr : Berichte von Mitgliedern des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) aus dem besetzten Deutschland 1945/46. Unter Mitarbeit von Uwe Schütz und Otto Dahn (Hrsg.). München: Saur (Texte und Materialien zur Zeitgeschichte).

Siedbürger, Günther (1995): Die Lokhalle und ihre Eisenbahner: Werksgeschichte und Arbeiterkultur in Göttingen 1855 - 1945. Göttingen: Schmerse.



1Siedbürger 1995, S. 116, 31.3.1933 - Entlassung politisch unliebsamer Arbeiter.

2Ebenda, S. 119, Frühjahr 1933 - Beschlagnahmung Eisenbahnverein.

3Ebenda, S. 129.

4Ebenda, S. 129–130.

5Gottwaldt 2009, S. 80.

6Mielke, Siegfried, Heinz, Stefan (Hrsg.) 2013, S. 94, 1935 - Hugo Bachmann – Verbindungen.

7Gottwaldt 2009, S. 81.

8InternationaleTransportarbeiter-Föderation und Aufzeichnungen über Personen, S. 4.

9Gottwaldt 2009, S. 161, Juli 1937 - Fahrt frei!

10Ebenda, S. 79, 1934 - ITF-Organisation – Niederlande.

11Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz B (1933 - 1946), S. 4, 30.3.1934 Hans Jahn an Henri (Willi Eichler). Leider liegt der Inhalt des Berichts nicht vor.

12Internationale-Transportarbeiter-Föderation und Aufzeichnungen über Personen, S. 2, Oskar Schmidt, Interview vom 25.11.1965.

13Ebenda, S. 4.

14Ebenda, S. 1, Personallisten. Aus diesen Listen sind leider keine Namen für Göttingen überliefert. Gelistet sind aus der Region Nora Platje, Hans Peter, Karl Schröder und Hugo Wiegand aus Kassel sowie Gustav Peise aus Herzberg und Ludwig Bonkowski aus Osterode.

15Internationaler Jugend-Bund (IJB) / Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Aktengruppe: ISK, Korrespondenz B (1933 - 1946), S. 4, 12.2.1936, Jahn an Fimmen.

16Ebenda, S. 2, 23.1.1936, Eichler an Edo Fimmen.

17Rüther 1998, S. 44, Ende 1944 - Jupp Kappius- Bericht.

18Ebenda, S. 25–26, 1.1.1945 - Bericht Jupp Kappius.

19Ebenda, S. 25, 31.1.1945.

Rainer Driever