Hermann Fraatz

wurde am 29.7.1883 in Göttingen geboren. Im April 1908 heiratete er die gleichaltrige Emma Beuermann. Ihre Kinder Elisabeth, Hermann und Hans wurden 1908, 1912 und 1925 geboren. Das Ehepaar wohnte zunächst im Stumpfebiel und ab 1911 in den neu errichteten Häusern der Breymannstraße.1

1901 wurde Fraatz Mitglied der Metallarbeitergewerkschaft, gleichzeitig trat er in die SPD ein. Er lernte Dreher beim Göttinger Orgelbauer Gieseke, ein Betrieb mit einer gewerkschaftlich sehr hohen Organisationsdichte. Nach Ableistung seines Wehrdienstes ging Hermann Fraatz auf Wunsch seines Vaters zur Reichsbahn. Seine sozialdemokratische Herkunft machte ihm dort das Leben schwer, zu der Zeit war eine Teilnahme an den Feiern zum 1. Mai noch ein Kündigungsgrund. Als einziger Eisenbahner seines Betriebes wurde er folgerichtig nicht „reklamiert“, was bedeutete, dass Hermann Fraatz am Ersten Weltkrieg teilnehmen musste. Seine Einheit war in Belgien stationiert und mit der Reparatur von Schienenfahrzeugen befasst. Am 15.11.1918 kehrte Fraatz nach Hause zurück.

Nach dem Krieg engagierte er sich im Aufbau einer neuen Gewerkschaftsorganisation. Politisch war er, wie viele andere, über die USPD zur KPD gekommen. 1928 wurde Fraatz Mitglied des Bürgervorsteherkollegiums für die KPD. 1933 wurde er mit ungefähr 70 Kollegen aus Gewerkschaften und SPD vom Reichsbahnausbesserungswerk entlassen. (Eisenbahner-Widerstand)

In der Folgezeit verdiente er sein Geld im Steinbruch, als Baggerführer oder Straßenfeger.2

Hermann Fraatz setzte auch innerhalb der KPD auf Gewerkschaftsarbeit. Weil er diese nicht nach den Richtlinien des Parteivorstandes betrieb, wurde er Ende 1930 aus der Partei ausgeschlossen. Da dies wegen seiner Bekanntheit nicht unkommentiert geschehen konnte, wurde der Parteiausschluss in der Einheitsfront, der damaligen Zeitung der KPD-Ortsgruppe Göttingen, begründet. Unter der Überschrift Wir geben Antwort war dort zu lesen:

Frage von O.E.: Weshalb hat die KPD das langjährige Mitglied H. Fraatz ausgeschlossen?

Die KPD und die gesamte kommunistische Internationale ist der festen Überzeugung, dass die Freien Gewerkschaften keinen Kampf mehr führen wollen. Deshalb sieht sie es als ihre Hauptaufgabe an, die revolutionäre Opposition innerhalb aller Gewerkschaften zu organisieren und zum Stosstrupp gegen die Verbandsbürokratie auszubilden. Der ehemalige Parteigenosse Fraatz glaubt seine eigene Meinung höher einschätzen zu müssen, als die Erfahrungen eines Millionenheeres revolutionärer Arbeiter. Er hat sich jahrelang geweigert, in dem wichtigsten Göttinger Betrieb die Gewerkschaftsopposition zu organisieren. Nicht zuletzt, weil er persönliche Interessen höher einschätzt als die Interessen der Partei. Deshalb musste er aus der KPD entfernt werden.3 Mit seiner Kritik war Fraatz nicht allein, auch der Göttinger ISK setzte seine Teilkooperation mit der KPD wegen der Gewerkschaftspolitik der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition (RGO) zu dieser Zeit aus.

Nach der Machtübertragung und seiner Entlassung aus dem Ausbesserungswerk gehörte Fraatz als ehemaliger KPD-Mann und Leiter des Eisenbahner-Fürsorgevereins zu dem Personenkreis der politisch Verfolgten. Am 3.5.1933 wurde im Zuge der Aktionen gegen die Gewerkschaften seine Wohnung in der Breymannstraße 7 durchsucht und sämtliches vorgefundenes Gewerkschaftsmaterial beschlagnahmt. Zudem wurde die Kasse des Eisenbahner-Fürsorge-Vereins Göttingen mit 164,40 RM sichergestellt und beschlagnahmt. Fraatz wurde im Anschluss an die Haussuchung in Schutzhaft genommen.4 Er wurde aber bereits am nächsten Tag auf Anordnung des Kommissars für die Gewerkschaften, Kleine, wieder freigelassen.5 Begründet wurde die Polizeiaktion mit dem Verdacht auf Vergeudung von Volksvermögen.

Kurz darauf wurde nach Durchsicht des beschlagnahmten Materials festgestellt, dass darunter kein kommunistisches oder staatsfeindliches Material sei und Fraatz zudem hier in letzter Zeit politisch nicht in Erscheinung getreten sei.6

Dieser Umstand und sein unauffälliges Verhalten in der Folgezeit sollten sich als äußerst nützlich erweisen. Im Umkreis des inzwischen verbotenen Einheitsverbands der Eisenbahner Deutschlands hatte sich unter der Führung von Hans Jahn ein illegales Eisenbahnernetzwerk gebildet. Auch in Göttingen entstand ein Stützpunkt. 1934 traf sich Jahn in Göttingen mit Hermann Fraatz, Walter Fassauer, Oskar Schmitt und anderen; hierbei wurde der ehemalige Betriebsratsvorsitzende des Reichsbahn-Ausbesserungswerkes Göttingen, Hermann Fraatz, als Gaugraf (Gebietsverantwortlicher) des Gaus Kassel eingesetzt.7 (Eisenbahner-Widerstand)

Dieses Eisenbahnernetzwerk konnte in Göttingen bis 1935 relativ ungestört arbeiten. Im Januar 1936 wurde es durch Verhaftungen dezimiert. Fraatz gehörte nicht zu den Inhaftierten der Verhaftungswelle vom Jahresbeginn 1936, der vier Mitglieder des Netzwerkes in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des ISK zum Opfer fielen. (ISK Verhaftungen)

1938 konnte Hermann Fraatz wieder als Dreher arbeiten. Allerdings ließ er sich nicht in die Mitgliedschaft der Deutschen Arbeitsfront (DAF) zwingen.8 Diese war inzwischen auf seiner alten Arbeitsstelle im Reichsbahnausbesserungswerk in völlige Isolation geraten. 1943 bot die DAF deshalb Fraatz an, wieder im Werk zu arbeiten und als Preis dafür den Posten des DAF-Betriebsobmanns zu übernehmen. Fraatz lehnte das Angebot ab.9

Nach Kriegsende wurde Fraatz von der Bahn in das Beamtenverhältnis übernommen. Er beteiligte sich an den Gesprächen zum Wiederaufbau der Gewerkschaften, die in der ersten Zeit in der Wohnung von Fritz Schmalz stattfanden und an denen Fritz Körber, August Stapel, Oskar Schmitt, Franz Arnoldt und andere teilnahmen.10

Nachdem die Pläne für eine sozialistische Einheitspartei gescheitert waren, engagierte sich Hermann Fraatz erneut in der Kommunistischen Partei. Er gehörte zusammen mit Karl Meyer, Gustav Kuhn und Gustav Weiß zum Gründungsausschuss der KPD in Göttingen. In den ersten Rat der Stadt Göttingen, der seine erste Sitzung am 23.11.1945 abhielt, zog er aber als Gewerkschaftsvertreter ein.11

Fraatz blieb in der Folgezeit Mitglied der Gewerkschaft der Eisenbahner. Wegen seiner Zugehörigkeit zu KPD, die inzwischen verboten worden war, fand noch 1961 eine Haussuchung bei dem 78jährigen statt. Politisch weiterhin engagiert, beteiligte er sich noch 1972 an der Kundgebung zum 1. Mai.12



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Literatur und Quellen

Durchsuchungen und Festnahmen: Verfolgung Systemgegner. Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Göttingen, Fach 31a, Nr. 9.

Gottwaldt, Alfred Bernd (2009): Eisenbahner gegen Hitler. Widerstand und Verfolgung bei der Reichsbahn 1933-1945. Wiesbaden: Marix-Verlag.

Karteikarten Popplow-Box. Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77 II, Nr. 110.

KPD Göttingen - Die Einheitsfront: Organ der KPD Göttingen, Nr. 1 vom Januar 1931. Stadtarchiv Göttingen, Bibliothek, S 18D.

Rohrbach, Rainer (1985): „… damit radikale Elemente zurückgedrängt werden.“ Gewerkschaften und Parteien in den Jahren 1945 und 1946. In: Hans-Georg Schmeling (Hg.): Göttingen 1945: Kriegsende und Neubeginn: Texte und Materialien zur Ausstellung im Städtischen Museum, 31. März - 28. Juli 1985. Göttingen: Kulturdezernat, S. 317–349.

Siedbürger, Günther (1995): Die Lokhalle und ihre Eisenbahner: Werksgeschichte und Arbeiterkultur in Göttingen 1855 - 1945. Göttingen: Schmerse.



1Meldekarte, StA Göttingen.

2Karteikarten Popplow-Box, S. 10, Göttinger Allgemeine vom 28.4.1973, Artikel von Peter Reichmann.

3KPD Göttingen - Die Einheitsfront: Organ der KPD Göttingen, Nr. 1 vom Januar 1931, S. 5, Parteiausschluss von Hermann Fraatz.

4Durchsuchungen und Festnahmen, S. 30-30v, Ortspolizei: Durchsuchung bei Hermann Fraatz, Breymannstraße 7, am 3.5.1933.

5Ebenda, S. 31, Schutzhaft Hermann Fraatz, 4.5.1933, Griethe.

6Ebenda, S. 32, Bescheinigung für Fraatz über beschlagnahmtes Gewerkschaftsmaterial, 4.5.1933.

7Gottwaldt 2009, S. 80, 1934 - 1935 - ITF - illegales Netzwerk Jahn – Göttingen.

8Karteikarten Popplow-Box, S. 10, Göttinger Allgemeine vom 28.4.1973, Artikel von Peter Reichmann.

9Siedbürger 1995, S. 129.

10Karteikarten Popplow-Box, S. 27, Fritz Schmalz - Interview mit Frau Schmalz, Eddigehausen bei Bovenden, Bierweg (bei Voelkel) am 6.11.1974.

11Rohrbach 1985, S. 321, erster Rat der Stadt Göttingen, erste Ratssitzung am 23.11.1945.

12Karteikarten Popplow-Box, S. 10, Göttinger Allgemeine vom 28.4.1973, Artikel von Peter Reichmann.

Rainer Driever